20120507 spiegel interview: Wir stehen für Werte

Sportpolitik „Wir stehen für Werte“

https://zh.scribd.com/doc/99020960/Der-Spiegel-19-2012

Philipp Lahm über die Debatte um die Menschenrechte im EM-Ausrichterland Ukraine – und den heiklen Umgang mit Machthaber Wiktor Janukowitsch

Fußballprofi Lahm, 28, ist Kapitän des FC Bayern München und der Nationalelf. Die Mannschaft des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) bestreitet bei der Europa-meisterschaft alle drei Gruppenspiele in der Ukraine, darunter am 13. Juni das Match gegen die Niederlande in Charkow. Dort sitzt die ehemalige Ministerpräsidentin Julija Timoschenko nach einem fragwürdigen Prozess in Haft.

SPIEGEL:

Herr Lahm, interessieren Sie sich für Politik?

Lahm:

Natürlich. es gehört auch zu meinem Job, mich über das Weltgeschehen zu informieren. Ich schaue Fernsehen, ich surfe im Internet. Und ich lese täglich Zeitung – nicht nur den Sportteil.

SPIEGEL:

Viele Ihrer Kollegen beim FC Bayern spielen auch in der deutschen Nationalmannschaft. Sprechen Sie untereinander über die Zustände in der Ukraine und den Hungerstreik von Julija Timoschenko?

Lahm:

Klar machen wir uns Gedanken. Alles andere wäre ja schlimm, denn das Thema wird uns in den nächsten Wochen begleiten. Jeder Nationalspieler hat inzwischen von DFB-Präsident Wolfgang Niersbach ein Schreiben erhalten, das erklärt, worum es in der Ukraine politisch geht. Auf dem aktuellen Stand zu sein ist für uns sehr wichtig. Dafür wird der DFB auch weiterhin sorgen.

SPIEGEL:

Was wissen Sie über das Land, das Sie besuchen werden?

Lahm:

Mir ist bewusst, dass die Ukraineein junger Staat ist, der nicht unseren Maßstäben entspricht, was Freiheit und Menschenrechte betrifft. Aber ich kann die Hintergründe nicht gut genug einschätzen. Das müssen Sportverbände und Politiker tun.

SPIEGEL:

Wie bereiten Sie sich auf solcheine Reise vor?

Lahm:

Das handhabt der DFB schon seitlangem sehr gründlich: Jedes Mal, wennwir ins Ausland reisen, egal wohin, bekommen wir eine Art Dossier über Fußball, Gesellschaft und Politik zur Hand.

SPIEGEL:

Uli Hoeneß, der Präsident Ihres Clubs, hat vorige Woche ein Plädoyer fürmündige Profis gehalten und Respekt vor Nationalspielern bekundet, die sich solidarisch mit den Oppositionellen in der Ukraine zeigen würden. Ihnen selbst istes wichtig, Stellung zu beziehen. Hat Hoeneß Sie persönlich dazu ermutigt?

Lahm:

Nein. Ich weiß ja, dass ich als Kapitän der Nationalelf in der Verantwortungstehe. Aber Hoeneß mischt sich ein, in politische oder gesellschaftliche Debatten,sein Wort hat Gewicht. Das imponiert mir. Da ist er ein Vorbild für mich.

SPIEGEL:

Überrascht es nie, dass die innenpolitischen Zustände in der Ukraine die EU zu überschatten drohen?

Lahm:

Der Fußball ist zu groß geworden, um davon unbehelligt zu bleiben. Als ich die ersten Gerichte über Timoschenkos angegriffene Gesundheit las, ahnte ich ,in welche Richtung es geht.

SPIEGEL:

Sollte sich Timoschenkos Zustand durch den Hungerstreik dramatisch ver-schlechtern und das Regime nicht einlen-ken, dreht sich die Debatte bereits darum,das Turnier zu boykottieren. Könnten Sie sich das vorstellen?

Lahm:

Mit dieser Trage sind wir Sportler überfordert. Das müssten die Verbände und die Politik entscheiden, denen vertraue ich. Andererseits: Eine EM ist stets ein riesiges Bedienereignis, sie könnte noch mehr Aufmerksamkeit auf die Missstände lenken. Das würde den politischen Druck auf die Ukraine erhöhen.

SPIEGEL:

Die EU-Kommission wird den Spielen in der Ukraine geschlossen fernbleiben. Kanzlerin Angela Merkel unddie meisten Bundesminister werden sichwahrscheinlich genauso verhalten, um das Regime nicht aufzuwerten. Wollen Sie den Kontakt zu Politikern des Randes ebenfalls meiden?

Lahm:

Normalerweise kommen wir Fußballer nicht mit den Regierungsvertreterneines Ausrichterlandes in Kontakt. Ich muss ehrlich sagen: Darüber bin ich im konkreten Fall durchaus froh.

SPIEGEL:

Das EM-Finale wird in der ukrainischen Hauptstadt Kiew gespielt. Sollte die deutsche Elf dabei sein, könnte es passieren, dass Ihnen Präsident Wiktor Janukowitsch auf der Ehrentribüne die Hand reicht. Würden Sie annehmen?

Lahm:

Das müsste ich mir dann ernsthaft überlegen. Meine Ansichten zu demokratischen Grundrechten, zu Menschenrechten, zu Fragen wie persönlicher Freiheit oder Pressefreiheit finde ich in der derzeitigen politischen Situation der Ukrainenicht wieder. Wenn ich sehe, wie das Regime Julija Timoschenko behandelt, dannhat das nichts mit meinen Vorstellungenvon Demokratie zu tun. Dafür ist jemand verantwortlich. Soviel ich weiß, machen die Siegerehrung in Kiew aber nur Uefa-Leute.

SPIEGEL:

Wie Uefa betont als Veranstalter des Turniers ihre politische Neutralität, Präsident Michel Platini hat sich bislang nicht öffentlich zu Fragen wie denen der Menschenrechte in der Ukraine geäußert. Erwarten Sie von Platini, dass er gegenüber den Machthabern Stellung bezieht?

Lahm:

Ich glaube, dass er Position beziehen sollte. Und ich bin gespannt, was erzu sagen hat.

SPIEGEL:

Sind Sport und Politik noch voneinander zu trennen?

Lahm:

Beides gehört zusammen, es lässt sich nicht voneinander trennen. Wir Nationalspieler repräsentieren Deutschland, wir stehen für eine demokratische Gesellschaft, für Werte wie Fairness und Toleranz, für Integration. Nehmen wir zum Beispiel die jüngsten Weltmeisterschaften, 2006 hierzulande und 2010 in Südafrika: Viele haben sich positiv über unser Auftreten geäußert. Das trägt zum Bild bei, das sich die Welt von Deutschland macht.

SPIEGEL:

Als die deutsche Mannschaft beider WM 1978 in Argentinien auf die damals dort herrschende Militärjunta angesprochen wurde, sagte Kapitän Berti Vogts: „Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen.“ Könnte sich ein deutscher Nationalspieler solch eine Aussage heute noch erlauben?

Lahm:

Die Zeiten haben sich geändert. Und damit auch wir Profis. Wir werdenals Vorbilder wahrgenommen, wir stehen viel stärker als die Spieler früher in der Öffentlichkeit, weil die Medien viel ausführlicher informieren. Wir wollen Zusammenhänge erklärt bekommen, und wir sprechen selbstverständlicher und differenzierter über die politische Dimension des Sports.

SPIEGEL:

Vor kurzem begann eine weiterepolitische Debatte über die EM. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann, forderte die Nationalmannschaft auf, sie solle während des Aufenthalts in Polen das ehemalige Konzentrationslager in Auschwitz besuchen.

Lahm:

Ich habe das zur Kenntnis genommen. Wichtig ist, dass wir wissen, was in Auschwitz  Schreckliches geschehen ist – und dass wir dazu eine Haltung haben. Vom DFB weiß ich, dass ein Besuch geplant ist.

SPIEGEL:

Fühlen Sie sich von Graumann unter Druck gesetzt?

Lahm:

Nein, es bleibt unsere Entscheidung, ob wir zur Gedenkstätte reisen oder etwas Ähnliches machen. Wir werden das im Mannschaftsrat diskutieren und gemeinsam mit dem DFB entscheiden. Wir sollten nicht vergessen, dass wir in erster Linie bei dem Turnier sind, um Fußball zu spielen und sportlich zu überzeugen.

SPIEGEL:

Ihr EM-Quartier liegt in Polen, nahe Danzig, nicht in der Ukraine. Beruhigt Sie das?

Lahm:

Das spielt keine Rolle.

SPIEGEL:

In Timoschenkos Geburtsstadt Dnjepropetrowsk sind vor einer Wochevier Bomben explodiert, die Hintergründe der Httentate bleiben unklar. Macht Ihnen das Angst?

Lahm:

Nein. Ich habe kein ungutes Gefühl, so weit geht es noch nicht. Ich hoffe darauf, dass sich die Lage nicht verschärft, sondern entspannt. Über Südafrika hatten vorher auch viele gesagt, die sicherheitslage sei wegen der hohen Kriminalität kritisch. Trotzdem mussten wir unsdort keine sorgen machen.


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