20120616 faz interview

„Wir spielen nicht mehr nur Hauruck“

An diesem Sonntag fordert Deutschland im letzten EM-Gruppenspiel die Dänen. Kapitän Philipp Lahm spricht zuvor im Interview mit der Sonntagszeitung über den Reifeprozess der DFB-Elf, die Bedeutung der Defensive und Härtefälle wie Klose und Mertesacker.

16.06.2012

© DPA, Kapitän und Lehrling: Lahm (im Foto rechts) motiviert seinen Abwehrkollegen Badstuber

Warum sind starke Außenverteidiger eine Rarität in Deutschland, vielleicht sogar in der Welt?

Weil man Qualität in beide Richtungen braucht, offensiv und defensiv. Und nehmen wir einen Linksverteidiger, der braucht normal einen Linksfuß. Davon gibt es schon mal weniger.

Was macht es so schwierig, diese Position auf höchstem Niveau auszufüllen?

Man muss sich stark im Aufbauspiel einbringen, aber auch hinten gut stehen. Das Profil eines Außenverteidigers ist heutzutage anders als vor zehn, fünfzehn Jahren. Damals war ein Außenverteidiger wirklich noch ein Verteidiger. Heute geht es mehr nach vorne ab.

© DPA, „Es gibt keine Garantie, dass wir ins Finale einziehen“

Verändert sich Ihre Balance zwischen Offensive und Defensive von Spiel zu Spiel?

Natürlich ist es was anderes, wenn man gegen Cristiano Ronaldo spielt oder einen anderen Spielertyp. Er ist sehr offensiv und hat dieses besondere Tempodribbling, da muss man einen Tick defensiver agieren. Aber im Grunde verändert sich ansonsten nicht viel.

Wenn es so weitergeht, müssen Sie noch im Lothar-Matthäus-Alter spielen - es kommt nichts nach.

Lothar hat noch mit fast vierzig Jahren Länderspiele gemacht - ich bin mir ziemlich sicher, dass ich da nicht mehr hinkommen werde. Okay, ich fühle mich fit, aber ich bin ja auch erst 28 und habe noch vier Jahre Vertrag vor mir bei den Bayern. Im modernen Fußball hat sich viel verschoben. Ich war mit 20 schon Stammspieler, jetzt habe ich acht Jahre in der Nationalmannschaft auf dem Buckel und schon fünf Turniere gespielt. Ich bin der Drittälteste im Kader, Miro ist mit Abstand der Älteste mit 34. Es wird immer schwieriger, im hohen Alter das Niveau zu halten.

© DPA, Vor der EM besuchte eine DFB-Delegation mit Lahm die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau

Ist es jetzt im Fußball wie früher bei den Achtundsechzigern - trau keinem über dreißig?

Das ist fast so, man muss sich nur die Konstellation in unserer Mannschaft anschauen. Es kommen ständig talentierte Spieler nach mit hoher Qualität. Da wird es für die Älteren schwer, das Tempo weiterzugehen. Das muss man ganz klar sagen. Früher hat man gesagt, von 28 bis 32 ist das perfekte Fußballalter. Das ist heute anders. Heute liegt es so zwischen 24 und 30, vielleicht 32.

Das haben Sie doch nur gesagt, damit Sie noch ein bisschen drin sind.

(Lacht) Ein Glück, ein paar Jahre habe ich noch.

Wie hat sich bei diesem Turnier das Spiel der Viererkette verändert, seit Mats Hummels zur Innenverteidigung gehört?

Das hat sich nicht verändert - das ist ja das Gute. Dass wir wissen, wie wir spielen wollen, und ein System haben, in dem sich jeder eingliedern kann - das zeichnet ja unser Team aus, das ist unsere Stärke, deshalb begeistern wir doch auch die Zuschauer. Bei uns ist alles definiert. Jeder von unseren Spielern weiß, wie unser Team spielen will - und so spielen wir auch. Dass es da immer Härtefälle gibt, siehe Miroslav Klose oder Per Mertesacker, das ist eben so.

© DPA, Abendessen mit der Kanzlerin: Frau Merkel zu Besuch im deutschen Quartier in Danzig

Und was sind denn nun die Konstanten im Abwehrspiel?

Man redet viel über Viererkette, aber das ist eine Diskussion von früher. Heute ist es eben nicht mehr so, dass vier Spieler verteidigen und die anderen schauen zu. Verteidigen ist ein Mannschaftssport, das haben wir auch bei Mario Gomez gesehen, wie er sich einsetzt. Heute ist es viel wichtiger als früher, dass die defensiven Mittelfeldspieler da sind und wie gegen Holland auch die äußeren Mittelfeldspieler defensiv mitarbeiten, damit wir hinten nicht in Eins-gegen-eins-Situationen geraten gegen diese vielen Top-Offensivspieler. Sonst wird es schwierig. Es ist wichtig, dass jemand neben einem steht, sonst wird es gegen Leute wie Robben, Ronaldo oder Sneijder sehr schwer. Und genauso wichtig ist es, wenn einer in der Abwehr zum Kopfball geht, dass sich die anderen drei von ihm in diesem Moment absetzen. Oder wenn ich draußen doch mal in der Eins-gegen-eins-Situation bin und der Mittelfeldspieler nicht da ist, dass mich der Innenverteidiger absichert. Das sind Kleinigkeiten, aber das muss man immer wieder trainieren.

Welche zusätzliche Qualität bringt Hummels ein?

Es ist schwer, Spieler miteinander zu vergleichen, und mit Per will ich schon gar niemanden vergleichen. Per hat eine enorme Erfahrung, aber er hatte das Pech, dass er vor der EM verletzt war. Was wir in unserem Spiel im Vergleich zu anderen Mannschaften besitzen, das ist Robustheit. Wir haben dieses Deutsche immer noch in uns, dass wir dynamisch sind in den Zweikämpfen - und so ein Spielertyp ist auch Mats.

© DPA, Schrecksekunde im ersten Spiel gegen Portugal - doch Manuel Neuer hält

Was wird denn gegen Dänemark an diesem Sonntag (20.45 Uhr / Live im F.A.Z.-Ticker) nötig sein?

Wir müssen in der Defensive so konzentriert spielen wie in den ersten Spielen. Vorne müssen wir noch ein bisschen druckvoller agieren. Und dann werden wir die Dänen natürlich nicht unterschätzen. Optimale Konzentration ist in diesem Spiel wieder angesagt.

Bei diesem Turnier wird sehr viel über die Defensive gesprochen. Der Viererkette müsste doch zugutekommen, dass die Defensivarbeit bei diesem Turnier so großgeschrieben wird wie nie zuvor?

Das kann schon sein. Aber das Wichtigste ist auch die Defensive. Man sieht bei diesem Turnier, dass es besonders schwer ist, ein 0:1 wieder aufzuholen. Wir hatten aber auch Glück gegen Holland, als van Persie die erste Möglichkeit vergeben hat. Das darf man nicht vergessen. So eine Chance kann ein Spiel entscheiden. Zuvor sind wir gegen Portugal 1:0 in Führung und gewinnen dann auch 1:0. Dass wir offensiv noch mehr Potential haben, das wissen wir. Aber es ist wichtig, dass wir nicht im ersten Spiel die Topform haben, sondern sie im Laufe des Turniers erreichen.

© DPA, Die Abwehrreihe steht: Lahm (rechts) und Holger Badstuber

Als gelernter Verteidiger kommt Ihnen diese Haltung doch sehr entgegen.

Nicht nur ich finde das sehr wichtig, sondern auch der Trainer. So haben wir uns die Fortschritte von Jahr zu Jahr erarbeitet. Jetzt ist klar, wie unser Stil ist. Dass wir eigentlich besser Fußball spielen können, wissen wir natürlich auch. Aber dennoch: Grundlegend ist, wie man sich defensiv verhält.

Und wenn Sie vom Turnier nach Hause kommen, haben Sie dann wieder Lust, bei den Bayern auch auf links statt rechts zu spielen?

Ich habe mich immer in den Dienst der Mannschaft gestellt. Aber es ist nicht immer einfach, zu wechseln - das sieht man phasenweise auch.

Wir wollten eigentlich etwas über Ihre Wunschvorstellung in dieser Sache erfahren.

Mir ist das, ehrlich gesagt, egal. Es gibt auf beiden Seiten Vor- und Nachteile. Defensiv fühle ich mich rechts wohler, links schaut mein Spiel offensiv spektakulärer aus.

© DAPD, Der neue „Capitano“: Lahm ist seit der WM 2010 Spielführer der Deutschen

Was macht man eigentlich mit einer Viererkette, wenn man gegen die Spanier spielt, die gar keinen Stürmer haben?

Wir müssen erst einmal sehen, dass wir Dänemark aus dem Weg räumen und eine Runde weiterkommen. Dass wir die Qualität haben, bis zum letzten Spiel in diesem Turnier zu bleiben, steht außer Frage. Aber die Spiele in diesem Turnier zeigen, dass man jedes Spiel für sich nehmen und jeden Schritt genau bedenken muss.

Die Frage zielte auch darauf, dass sich eine Defensive wechselnden Anforderungen gegenübersieht.

Wir bereiten uns auch auf jeden Gegner gezielt vor, mit seinen Stärken und Schwächen. Was die Spanier betrifft: Ihr Spiel gegen Italien hat gezeigt, wie man gegen sie spielen muss - wir müssen die Mitte schließen und eng zusammenstehen.

© DPA, Taktikbesprechung in Danzig: Bundestrainer Joachim Löw und Lahm

Im ersten Spiel haben Sie über Erschöpfung durch die Hitze geklagt. Wie viel Kraft kostet diese Vorrunde in der sogenannten „Todesgruppe“? Mehr als bei anderen Turnieren?

Für mich war das erste Spiel der Ausnahmezustand. Es war das schwerste Spiel meiner Karriere. Da habe ich nach fünf Minuten gedacht, dass ich mich auswechseln lassen muss. Ich weiß nicht, woran es lag: an der Luftfeuchtigkeit, dass ich in drei Wochen nur ein Testspiel absolviert habe? Ich weiß es nicht. Gegen Holland war mein Gefühl trotz der stärkeren Hitze viel besser. Aber ansonsten ist diese Vorrunde körperlich nicht fordernder als andere.

Sie haben die ständigen Fortschritte unter Joachim Löw angesprochen. Wie würden Sie diesen Gewinn für sich persönlich beschreiben?

Ich habe viel Erfahrung dank dieser Entwicklung gesammelt. Aber ich war auch schon vorher Stammspieler. Für mich war es außerdem positiv, mehr Verantwortung zu bekommen und zu übernehmen - vom Trainerteam und den Mitspielern. Das ist etwas Schönes.

Die Nationalelf hat so viele starke Spieler und auch Persönlichkeiten hinzugewonnen. Verliert da die Rolle des Kapitäns an Bedeutung?

Wichtig ist, in der Mannschaft den Teamgeist hochzuhalten. Meine Aufgabe ist, wenn ich erkenne, dass jemand nicht mehr richtig mitzieht, ihn wieder einzubinden. Aber bei uns sind viele Spieler sehr verantwortungsbewusst. Ich denke an Sami Khedira oder Mesut Özil, sie haben nach zwei Jahren hier mehr Verantwortung übernommen. Das ist gut. Man merkt das auch bei Lukas Podolski mit seinen vielen Länderspielen und seiner Erfahrung. Wir alle verspüren sehr viel Verantwortung.

Teilen Sie den Eindruck, dass bei dieser Mannschaft eine Menge stimmt, sie reifer und ruhiger wirkt als noch 2010?

Das ist genau so. Die Mannschaft ist reif durch die einzelnen Persönlichkeiten. Unser Spiel ist nicht mehr nur Hauruck, man sieht in den entscheidenden Phasen eines Spiels, dass die Gelassenheit und Ruhe da sind, die man braucht, um wichtige Spiele zu gewinnen. Da sind wir einen Schritt weiter. Ob es für den Titel reicht, muss man sehen. Es gibt noch vier, fünf andere Mannschaften, die schwer zu schlagen sind. Aber wir haben innerhalb der letzten zwei Jahre einen riesigen Schritt gemacht.

Gibt es eine Mannschaft, die Sie stark beeindruckt hat?

Natürlich sind die Spanier gefährlich -aber auch die Italiener. Bei ihnen stimmt vieles. Es gibt viele gefährliche Gegner, da marschiert man nicht einfach mal so durchs Viertel- oder Halbfinale. Das ist harte Arbeit. Auch wenn wir uns den Respekt der anderen erarbeitet haben und als Mitfavorit gelten: Es gibt keine Garantie, dass wir ins Finale einziehen. Das Potential dafür aber haben wir.

Klingt danach, dass Sie glauben, die Deutschen wären endlich mal wieder dran.

Schön wär’s - das zumindest ist sicher.


Das Gespräch führten Michael Ashelm und Michael Horeni.

Quelle: F.A.S.


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