20100517/SZ/Hoeneß"Viel Bier, viel Wein, Wahnsinn"

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17. Mai 2010, 21:13 UhrInterview mit Uli Hoeneß"Viel Bier, viel Wein, Wahnsinn"

Ein Gespräch über eine Generation, die Freiheit liebte und Funktionäre ärgerte. Sie pokerten um Prämien, büchsten aus und feierten alleine. Von Kurt Röttgen und Ludger Schultze

SZSchiedsrichter Taylor pfeift ab, Holland ist 2:1 besiegt, Deutschland ist Weltmeister. Herr Hoeneß, wissen Sie noch, was Sie am 7. Juli 1974 in dem Moment empfunden haben?

Hoeneß:Ich weiß nur noch, dass ich unglaublich kaputt war. Am Vorabend hatte ich Fieber bekommen, mir von unserem Vereinsarzt heimlich Medikamente geben lassen. Ich habe die ganze Nacht durchgeschwitzt.

SZWieso heimlich? 

Hoeneß:Ich konnte das doch keinem sagen. Wenn Bundestrainer Schön erfahren hätte, dass ich Stunden vor dem WM-Finale einen Infekt mit 39 Grad Fieber auskurieren wollte, hätte er die Aufstellung geändert. Ich war so geschwächt, dass ich kaum auf den Beinen stehen konnte.

SZEin spätes Geständnis. Was würden Sie als Manager des FC Bayern Münchenmit einem Spieler machen, der in solch einer Situation eine Erkrankung verschweigt? 

Hoeneß:Ich hätte totales Verständnis. Natürlich sagt man, das sei Verrat an der Mannschaft. Aber ein WM-Endspiel gibt es nur einmal im Leben. Und so schlecht habe ich ja dann nicht gespielt, dass ich den anderen zur Last gefallen wäre.

SZNa, ja. Schon nach 60 Sekunden haben Sie Johan Cruyff von den Beinen geholt, es gab Elfmeter für Holland. 

Hoeneß:Aber nur, weil Cruyffs Gegenspieler Berti Vogts zu langsam war. Da musste ich einschreiten.

SZWarum haben Sie Johan Cruyff denn nicht wenigstens vor dem Strafraum gefoult?

Hoeneß:Habe ich doch. Cruyff ist geschickt gefallen, aber der Elfmeter war unberechtigt. Genauso wie der für uns.

SZDass Bernd Hölzenbein geschauspielert habe, behaupten die Holländer seit drei Jahrzehnten. Ebenso lange lächelt Hölzenbein nur schelmisch, wenn man ihn darauf anspricht. Was hat er denn damals der Mannschaft gesagt? 

Hoeneß:Unter uns war immer klar: Es war kein Elfmeter. Dennoch hat Hölzenbein recht, dass er dazu schweigt. Er hat den Elfmeter fürDeutschland herausgeholt, das muss sein Mythos bleiben.

SZGeschossen hat den Elfmeter zur allgemeinen Überraschung Paul Breitner, einer der Jüngsten im Team. Die Älteren haben sich offenbar nicht getraut.

Hoeneß:Ich war Elfmeter-Schütze Nummer eins, hatte gegen Schweden einen verwandelt und war gegen Polen an Torwart Tomaszewski gescheitert. Wer im Endspiel schießen sollte, hatte Schön nicht festgelegt. Ich habe mich sofort zurückgezogen. Elfmeter sind eine Nervensache, das hat man ja 1976 gesehen...

SZ... als Sie den Ball unauffindbar in den Belgrader Nachthimmel droschen und Deutschland deshalb im Elfmeterschießen das Europameisterschafts-Finale gegen die Tschechen verlor. Was macht den Elfmeter so schwierig? 

Hoeneß:Es ist ein Nervenspiel mit dem Torwart. Der selbstsichere Schütze wartet, bis der Torwart sich zu einer Ecke hin orientiert, und schießt in die andere. Roy Makaayzum Beispiel beherrscht das meisterhaft. Ich fühlte mich durch meine Erkrankung für dieses Nervenspiel nicht stark genug, auch Gerd Müller machte nicht den sichersten Eindruck. Da kam plötzlich Paul Breitner von hinten, nahm den Ball und ging zum Elfmeter-Punkt. Der war nun gar nicht vorgesehen.

SZHat er jemanden gefragt? Kapitän Beckenbauer etwa, der so gut wie alles bestimmte? 

Hoeneß:Da wurde nicht mehr diskutiert. In einer so extremen Situation ist man froh, wenn jemand die Verantwortung übernimmt. Es war eine Bauchentscheidung von Breitner, vermutlich weiß er bis heute nicht, warum er das gemacht hat.

SZDie Holländer fühlten sich als die wahren Weltmeister, nur an der eigenen Überheblichkeit und keineswegs an den Qualitäten des Gegners gescheitert. "Wir wollten die Deutschen vorführen. Darüber vergaßen wir, das zweite Tor zu schießen", meinte Stürmer Johnny Rep. Reden sie sich die Niederlage schön oder ist da was dran? 

Hoeneß:Sie waren relativ leicht ins Finale gekommen und hatten aus ihrer Sicht eine Jahrhundert-Elf, das hat sie ziemlich überheblich gemacht. Aber sie waren von der individuellen Stärke her auch das bessere Team. Ich habe immer noch vor Augen, wie Sepp Maier, Franz Beckenbauer und natürlich Katsche Schwarzenbeck die unglaublichen Chancen der Holländer in der zweiten Halbzeit vereitelt haben. Es war schon Glück dabei. Wenn wir den Ausgleich kassiert hätten, wäre es sehr, sehr eng geworden.

SZDie Deutschen hätten "auf teutonische Art gewonnen", schrieb Italiens Corriere dello Sport. Also Kampfkraft und Siegeswille statt Kreativität und Eleganz wie zwei Jahre zuvor bei der EM. Was unterschied die Teams von 72 und74? 

Hoeneß:1974 war der Kräfteverschleiß enorm. Der FC Bayern ...

SZ... der mit sechs Spielern den Kern der Weltmeister-Elf stellte ... 

Hoeneß:... hatte erst im Wiederholungsspiel gegen Atletico Madrid den Europapokal der Landesmeister gewonnen. 4:0 in Brüssel, mein bestes Spiel überhaupt. Aber bei der WM hatte ich diese Form nicht mehr, wir hatten sie alle nicht mehr. Und dann noch dieses Sintflut-Spiel gegen Polen, das unmenschliche Kraft kostete, weil jeder Schritt durch die Wassermassen schwer fiel.

"Viel Bier, viel Wein, Wahnsinn" 

SZIm Gegensatz zu 1974 wurde die Nationalelf 1972 hymnisch gefeiert. "Traumfußball aus dem Jahr 2000", sah das französische Sportblatt L`Equipe. Selbst die deutschen Feuilletonisten gerieten kollektiv ins Schwärmen. Mal kam Spielmacher Netzer mit wehendem Blondhaar "aus der Tiefe des Raumes", mal "atmeten seine weiten Pässe den Geist der Utopie". 

Hoeneß:Der Wechsel von Netzer auf Overath hatte unser Spiel verändert. Im Gegensatz zu Overath trieb Netzer den Ball auch mal im Dribbling nach vorn. Mit Netzer waren wir 1972 eine richtige Dampfwalze gewesen, diese Dynamik hatten unsere Angriffe nicht mehr. Wir Bayern waren ja eher Netzer-Fans und hatten gehofft, dass er nach seiner Verletzung in Form kommen würde. Aber während des Trainingslagers wurde klar, dass man nur mit Overath spielen konnte.

SZDeutschland war 1974 nicht mehr so wie zwei Jahre zuvor. Ölkrise und steigende Arbeitslosenzahlen drückten auf die Stimmung; Visionär Willy Brandt war zurückgetreten, im Kanzleramt regierte Macher Helmut Schmidt. Denken Sie, dass die neue Nüchternheit, das Ende der Träume von mehr individueller Freiheit, sich im Fußball widerspiegelte? 

Hoeneß:Netzer und Overath sind dafür ein gutes Beispiel. Netzer war der Rebell, der dem Zeitgeist der 68er entsprach. Ich vergleiche ihn mal mit Brandt, dann passt der Vergleich Overath/Schmidt wunderbar. Der Pragmatiker Overath stellte das Machbare in den Vordergrund, Netzer hingegen das Visionäre, Außergewöhnliche, ja das Verrückte. Auch außerhalb des Spielfeldes mit seinem Gehabe, seinen langen Haaren, dem Ferrari, der eigenen Disko.

SZNach allgemeiner Expertenmeinung war Johan Cruyff der herausragende Spieler dieser WM. 

Hoeneß:Er hat spektakulärer gespielt als Beckenbauer, aber für uns war der Franz mindestens so wertvoll wie Cruyff für die Holländer. Beckenbauer ist bei der WM zu einer riesigen Persönlichkeit geworden; in jedem Spiel überragend und mit Führungsqualitäten, an denen sich die Mannschaft aufgerichtet hat.

SZNach dem 0:1 gegen die DDR verkündete ein wütender Beckenbauer öffentlich den Umbau des Teams und nicht etwa Bundestrainer Schön. Der Kapitän hatte die Macht übernommen, Sie waren eines seiner Opfer.

Hoeneß:Franz hat die Fehler schonungslos analysiert und damit die Weichen für den Erfolg gestellt.

SZSie müssen doch stocksauer gewesen sein, als Sie zunächst aus der Mannschaft flogen. "Freunde sind Beckenbauer und Hoeneß seit jenen Tagen nicht mehr geworden", schreibt der Beckenbauer-Biograph Torsten Körner.

Hoeneß:Natürlich war ich stocksauer, aber mein Verhältnis zum Franz ist völlig okay. Die Mannschaft brauchte nach der Pleite frisches Blut, und ich brauchte vielleicht einen Schuss vor den Bug. Ich war etwas bequem geworden.

SZHat die Mannschaft eigentlich Beckenbauers nächtliche Extratouren von der Sportschule Malente ins Hotel der Schauspielerin Heidi Brühl mitbekommen?

Hoeneß:Man hat gemunkelt, dass da was war, so ganz genau wussten wir's nicht. Wir waren in der Sportschule ja kaserniert, mehr oder weniger eingepfercht, aus Angst vor Terroranschlägen Tag und Nacht von der GSG-9 bewacht. Wir fühlten uns in unserer persönlichen Freiheit sehr eingeschränkt.

SZSie und Sepp Maier sind doch ausgebüchst, um in einem Hamburger Hotel bei Ihren Ehefrauen zu nächtigen. 

Hoeneß:Wir haben einen Polizisten überredet, uns in seinem Privatwagen nach Hamburg zu fahren. Der fuhr uns zu langsam, Sepp hat das Steuer übernommen, der Polizist auf dem Rücksitz geschlafen. Plötzlich sagt Sepp: "Du, Uli, die Bremse funktioniert nicht." Er hat dann ständig die Handbremse gezogen. In Hamburg hatte er solche Blasen an den Fingern, dass es fraglich war, ob er beim nächsten Spiel im Tor stehen könnte. Und zurück dann dasselbe noch mal.

SZMalente ist gleichsam Synonym für Ärger und Frust im deutschen Lager bis zum letzten Tag dieser WM. Die selbstbewussten Repräsentanten einer neuen Spielergeneration und starrsinnige Funktionäre, die im Geiste noch bei Turnvater Jahn waren - das konnte nicht gut gehen. 

Hoeneß:Die lebten noch in einer Welt, wo elf Freunde möglichst umsonst Fußball spielen. Sie begriffen nicht, dass sie es mit einer Generation zu tun hatten, die professioneller geworden war und sich nicht mehr alles oktroyieren ließ.

SZ30000 Mark pro Spieler bot der DFB für den Titelgewinn, die forderten 100000. Worauf Verhandlungsführer Hans Deckert von "Erpressung" sprach und Beckenbauer anschnauzte: "Ich habe geglaubt, ich wäre unter sauberen jungen Männern." 

Hoeneß:Es war schon erstaunlich, wie schlecht der DFB auf diese Situation vorbereitet war. Er hatte durch die WM Einnahmen wie nie zuvor und wollte uns mit sehr viel weniger abspeisen, als etwa Holländer oder Italiener verdienen konnten. Das fanden wir ungerecht.

SZDer Prämien-Poker von Malente ist in der Nationalmannschaft ohne Beispiel. Bis fünf Uhr in der Früh wurde gefeilscht, gestritten ... 

Hoeneß:... abgestimmt, viel Bier und Wein getrunken, wieder abgestimmt, es war der Wahnsinn. Schön beschimpfte Breitner als "Rädelsführer"...

SZ...und "Maoisten"... 

Hoeneß:... und Paul wollte daraufhin noch in der Nacht abreisen. Er wäre weg gewesen, wenn es eine günstige Zugverbindung gegeben hätte. Die Koffer hatte er schon gepackt.

SZHelmut Schön auch. Der entnervte Bundestrainer schwankte zwischen sofortiger Heimreise und der Absicht, alle 22 Spieler des WM-Kaders zu feuern und neue zu nominieren. "Die Leute auf der Straße werden euch anspucken", prophezeite er düster. 

Hoeneß:Schön tat uns leid, wir schätzten ihn ja. Er stand zwischen den Fronten. Aber wir waren davon überzeugt, dass wir die besseren Argumente hatten. Schließlich einigten wir uns auf einen Kompromiss: 70000 Mark für jeden.

SZ Während die Nation am Abend des 7. Juli den zweiten WM-Sieg nach 1954feierte, ging der Krach weiter. Ihre Frau Susi lief weinend davon, nachdem DFB-Funktionäre ihr den Zutritt zum Bankett im Münchner Hotel Hilton mit der Begründung verwehrt hatten: "Hier herrscht noch Zucht und Ordnung."

Hoeneß: Unsere Frauen durften nicht rein, aber die Frauen der Funktionäre thronten da und tranken Champagner auf den Titel, den wir gewonnen hatten. Dabei waren wir wochenlang von unseren Familien getrennt gewesen. Wir haben das Bankett verlassen und in Diskotheken gefeiert. Für die spiele ich nie mehr, sagte Gerd Müller, der erfolgreichste Stürmer, den Deutschland je hatte. Er hat seine Ankündigung wahr gemacht.


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